- minoische Religion: Weibliche Gottheiten
- minoische Religion: Weibliche GottheitenDie Vielzahl von Darstellungen weiblicher Gottheiten auf Kreta weist auf eine zentrale Rolle des Weiblichen in der minoischen Religion hin. Eindeutige Aussagen fallen jedoch schwer, da die zahlreichen Bilddenkmäler von Gottheiten und Kulthandlungen nicht durch literarische Überlieferungen ergänzt werden. Die Entzifferung der Linear-A-Schrift, die vielleicht Hinweise enthalten könnte, steht noch aus. Die griechischen Mythen des klassischen Altertums, die sich auf das minoische Kreta beziehen, können wie Mythen generell leider nur sehr begrenzt zu Erklärungen herangezogen werden. In diesen griechischen Mythen wie zum Beispiel im Mythos vom Minotaurus spiegeln sich oft gleichzeitig der Sieg des hellenistischen Griechenland über die minoische Kultur und Teile der minoischen Mythologie und Religion wider. Obwohl die genaue Deutung des minoischen Kerns der betreffenden Mythen schwer fällt, zeigen sie doch eines deutlich: Sie betonen fast alle die Rolle der Göttin und die Rolle des Stiers in der minoischen Religion. Inwieweit der Stier dabei Opfergabe, Gegenstand der Überwindung oder der Verehrung oder gar göttlicher Gemahl der Großen Göttin ist, ist jedoch nach den bisher vorliegenden Untersuchungen bis jetzt nicht eindeutig geklärt.Ebenfalls ungeklärt ist die Frage, ob es sich bei der minoischen Religion um einen Polytheismus handelte. Die vielen Funde weiblicher Götterfiguren können sowohl auf verschiedene weiblich personifizierte Gottheiten für verschiedene Bereiche hinweisen als auch ein Indiz für die Erscheinung einer einzigen Göttin in verschiedenen Gestalten für verschiedene Bereiche der Natur und der Welt sein. Die Frage, ob die minoische Religion die Vorstellung einer weiblichen Universalgöttin kannte, die etwa der späteren Kybele oder Magna Mater der klassischen Zeit vergleichbar gewesen wäre, muss daher offen bleiben.In Myrtos wurde eine aus dem 3. Jahrtausend stammende weibliche Terrakotte gefunden, die man aufgrund des Fundortes - eine Töpfersiedlung - als Beschützerin des Töpferhandwerks identifizieren kann. Der Körper der Figur ist ungegliedert breit angelegt. Der hohe Hals endet in dem proportional stark verkleinerten Antlitz. Im Arm hält die Göttin eine tönerne Schnabelkanne. Die Geschlechtsmerkmale, Brüste und Schamdreieck, sind summarisch angedeutet. Die Unterstreichung des Aspekts der weiblichen Fruchtbarkeit in den Körpermerkmalen kann hier jedoch auch auf eine Verkörperung der Großen Göttin des Vegetationskultes hinweisen, der zusätzlich eine Schutzfunktion für das Töpferhandwerk zugewiesen wurde.Viele religiöse Darstellungen der minoischen Kultur belegen zweifelsfrei, dass die Fruchtbarkeit der Erde, das Aufblühen und Fruchten der Natur genauso wie ihr Sterben und Wiederaufblühen zu den zentralen religiösen Erfahrungen zählte. Auch die vorwiegend in der Natur und weniger in Tempeln wie bei den Griechen stattfindende Verehrung der Gottheiten weist auf eine enge Verbindung von Gottheit und Natur hin. Diese Verbindung zeigt sich auch in den verschiedenen Objekten sakraler Herkunft wie etwa den Goldringen und Siegeln aus Mallia, Knossos und anderen Orten, die religiöse Szenen, zum Beispiel die Erscheinung einer Gottheit, darstellen. Neben der Gottheit taucht in vielen Fällen ein belaubter Baum als Symbol der Fruchtbarkeit auf. Ein Baum erscheint oft auch in Verbindung mit der Doppelaxt und dem Doppelhorn, zwei weiteren sehr häufig auftretenden minoischen Symbolen aus der Welt des Sakralen.Die vorgefundenen Figuren von Göttinnen weisen manchmal einen Kopfputz aus Mohnblumen auf und tragen Lilienblüten in der Hand, so die bei Heraklion gefundene, aus dem 14. bis 12. Jahrhundert stammende Göttin mit Mohnkapseln. Neben der Darstellung von Göttinnen mit aus der Pflanzenwelt stammenden Attributen finden sich auch Göttinnen mit Tieren in den Händen, auf dem Kopf oder als Begleitung an ihrer Seite. In diesen Darstellungen zeigt sich die Göttin unter anderem als Herrin der Tiere. Delphine, Löwen und Vögel begleiten sie. Ihr herrscherlicher Charakter wird in der Siegelglyptik dadurch unterstrichen, dass sie die Tiere mit den Händen packt. Herrscherlichen Charakter weist auch ein Siegelabdruck auf, der die Erscheinung einer Göttin auf der Spitze eines Berges zeigt. Die Göttin wird hier links und rechts von einem Löwen flankiert, während vor ihr ein Adorant, eine Gestalt in anbetender Haltung, steht. Auch Greifen oder Sphingen als Wächter mythischer Sphären unterstreichen die Macht und Gewalt der Göttin.Analog zur Herrin der Tiere findet man, wenn auch in geringerer Anzahl, einen Herrn der Tiere, einen meist Jugendlichen Gott als Beherrscher von Löwen, Stieren oder auch mythischen Wesen wie geflügelten Ziegen oder Taurt-Dämonen (der aus Ägypten stammende Import der nilpferdgestaltigen Gottheit Taurt). Eine besondere Ausprägung stellt der bewaffnete Jugendliche Gott dar, der häufig in Begleitung eines Löwen erscheint. Ein Jugendlicher Gott erscheint auch auf einem Siegelabdruck von Chania. Er steht hier auf den Gebäuden der Stadt, ist also vermutlich in seiner Funktion als Herr oder Beschützer einer minoischen Stadt dargestellt. Der Jugendliche Gott scheint bisher die einzige eindeutig belegte Darstellung einer männlichen Gottheit im minoischen Kreta zu sein.Die eher mütterliche, fruchtbringende Gestalt der Göttin zeigt sich auf Siegelbildern, auf denen sie Rinder oder Ziegen füttert, was den Aspekt der Schützerin der Herden unterstreicht.Die Kombination von einer Göttin mit einer Schlange oder einem Vogel könnte auch auf eine tiergestaltige Erscheinungsform der Göttin hinweisen. Die Vögel können jedoch auch als Götterboten interpretiert werden.Zwei aus dem Heiligtum von Knossos stammende Statuetten werden durch die ihnen beigegebenen Attribute als Göttinnen ausgewiesen. Sie tragen einen Panther auf dem Kopfputz und Schlangen in den Händen. Gekleidet sind sie in der typisch minoischen Hoftracht mit einem Jäckchen, das die Brüste freilässt, und einem langen Volantrock.Die Minoer haben ihre Göttinnen und Götter an den unterschiedlichsten Plätzen verehrt. Neben Kapellen in Palästen und Schreinen in Stadtanlagen kennen wir teils aus archäologischen Funden, teils aus Darstellungen der minoischen Kunst eine ganze Reihe von Kultplätzen in der freien Natur. Diese reichen von einfachen Einfriedungen um einen heiligen Baum über offene Haine und Kulthöhlen, die den Zugang zu Mutter Erde öffneten, bis hin zu Heiligtümern auf Berggipfeln, die meist in Verbindung mit einer Stadtanlage oder einer Palastanlage standen. Die für die minoische Religion besonders charakteristischen Höhlenheiligtümer entstanden seit dem Beginn des 2. Jahrtausends und wurden bis in die Neupalastzeit hinein regelmäßig besucht. Zu den bekanntesten gehörten Juchtas bei Phurni, Archanes südlich von Knossos und Petsophas südlich von Palaikastro sowie der Traostalos nördlich des Palastes von Kato Zakros.Eine wichtigere Rolle als die Verehrung des Kultbildes spielte in der minoischen Religion die Epiphanie, die Erscheinung der Gottheit. Sehr oft findet man Darstellungen einer weiblichen oder männlichen Gottheit, die während des Gebets oder auch während des Kulttanzes der Gläubigen herabschwebten. Auch die verschiedenen den Gottheiten beigegebenen Attribute weisen auf ihre Erscheinung in unterschiedlichen Formen anlässlich der religiösen Zeremonien hin. Die Gottheit lebt also nicht im Kultbild, sondern erschließt sich in ihrer Erscheinung erst bei der Ausübung des Gottesdienstes, des Opfers oder anderer Riten. Möglicherweise wurden die Epiphanien während der Kulthandlung in szenischer Form optisch veranschaulicht. Hier hätte man es dann mit einer frühen Form des Theaters zu tun.Da die Epiphanie und nicht das Kultbild im Zentrum stehen, spielen die Kultbilder in der Neupalastzeit auch eine eher untergeordnete Rolle. Sie sind meist kleinformatig wie die Fayencestatuetten aus dem Palast von Knossos. In der Wissenschaft wird jedoch auch die Existenz großformatiger Kultbilder aus vergänglichem Material diskutiert. Diese These wurde von Funden aus Archanes, Mallia und anderen Plätzen gestützt, wo leicht unterlebensgroße Füße aus Terrakotta, die offensichtlich zum Eindübeln in ein hölzernes Bildwerk bestimmt waren, entdeckt wurden. Die Zahl dieser Denkmäler ist jedoch so klein und ihre Aussagekraft so gering, dass sich daraus bis jetzt kaum weitere Schlüsse ziehen lassen.Kultbilder sind vor allem aus der Endphase der minoischen Kultur im 14. und 13. Jahrhundert v. Chr. bekannt. Es handelt sich dabei durchweg um weibliche Idole aus Terrakotta, die im Unterteil auf der Töpferscheibe gedreht sind, sodass der Unterkörper meist schematische Gestalt annimmt. Der Oberkörper ist frei modelliert, die Hände des Idols sind gewöhnlich erhoben. Dies ist der alte Gestus der Epiphanie, wie wir ihn aus den Siegeldarstellungen der minoischen Blütezeit kennen. Der Kopfschmuck der stark schematisierten Idole kann aus vegetabilen Motiven wie Mohnkapseln oder aus tiergestaltigen Attributen wie stilisierten Stierhörnern und Vogelfiguren bestehen. Offensichtlich wurde der Gedanke an eine Naturgottheit über das Ende der Paläste hinaus bis in die minoische Spätzeit überliefert.Prof. Dr. Hartmut MatthäusDemargne, Pierre: Die Geburt der griechischen Kunst. Die Kunst im ägäischen Raum von vorgeschichtlicher Zeit bis zum Anfang des 6.vorchristlichen Jahrhunderts. München 1965.Matz, Friedrich: Kreta und frühes Griechenland. Prolegomena zur griechischen Kunstgeschichte. Neuausgabe Baden-Baden 31979.Snyder, Geerto A.S.: Minoische und mykenische Kunst. Aussage und Deutung. München u.a. 1980.
Universal-Lexikon. 2012.